Einstürzende Altbauten

Einstürzende Altbauten
Paul Badde
Die Welt 30/12/2010

Ein Besuch in den Ruinen von Pompeji, die durch Regen and Misswirtschaft gefährdet sind
Die Millionen von Besuchern in der antiken Stadt am Fuß des Vesuvs sind Segen and Fluch

Es schüttete aus Kübeln, Wochen lang. Nach dem Regen kam die Kälte. Besucher aus aller Welt aber drangen sich weiter unverzagt vor den Stadttoren Pompejis. Schneidender Wind pfeift vom Meer über den Basalt der Via Stabiana, hinter deren Ende sich der Vesuv in den grauen Himmel reckt. Herrenlose Hunde streunen in Rudeln durch die Gemäuer. Rosmarin überwuchert viele Ruinen. Gelber Ginster krönt etliche Trümmerberge entlang der langen Via di Nola, unter denen noch ein gutes großes Drittel der geschäftigen Hafenstadt ruht, die am 24. August 79 vollständig dem Ausbruch des Vesuvs zum Opfer fiel. Vieles ist immer noch nicht ausgegraben, große Partien der alten Metropole ruhen weiter unter Bims und Lavaasche, die Pompeji teils mit einer 25 Meter dicken Schicht versiegelt hatte. Seit dem ersten Spatenstich im Jahre 1748 ist die Ausgrabung der Stadt ein unendliches und immer gefährdetes Projekt zur Bergung und Entzifferung der antiken Kultur des Mittelmeerraums; auch der zweite Wiederaufbau Pompejis nach dem Bombenangriff der Alliierten vom September 1943 oder dem Erdbeben von 1980 halt immer noch an. Alles an Pompeji ist unvergleichlich. Denn es sind ja nicht nur zwei oder drei verschüttete Tempelanlagen, die hier frei gelegt wurden, sondern wirklich zwei Drittel einer vollständigen dicht bebauten Stadt mit ihren Wohnvierteln, Marktvierteln, Vergnügungsvierteln und Sakralbereichen, mit verschwiegenen Winkeln, großartigen Foren, Thermen und Plätzen oder eleganten Arenen. Allenthalben stutzen Balken und Gerüste die wieder frei gelegten 2000 Jahre alten Gemäuer aus Tuff und Travertin. Viele Bereiche sind wegen Einsturzgefahr abgesperrt. Jedes frei zugängliche Haus muss eigens gesichert werden. Am Ende der alten Basarstraße des Überflusses (der "via dell Abbondanza") treffen sich in diesen Tagen die meisten Besucher vor der jüngsten Sehenswürdigkeit. Ein Haufen Steine, Plastikplanen darüber, Gitter davor und schon hundert Meter vorher eine Absperrung der Straße mit rotweißen Plastikbändern. Naher darf niemand heran. Es ist nicht das Amphitheater Pompejis. Es war das Haus der Gladiatoren. Nach dem Dauerregen ist es am 6. November eingestürzt. Der Hügel unmittelbar dahinter hatte sich von den Wassermassen so voll gesogen, dass er sich wie ein Pudding in Bewegung gesetzt und die Mauern eingedrückt hatte. Danach fielen bis zum 3. Dezember noch drei weitere Tuffsteinmauern um. Die Bilder der Trümmerhaufen gingen sogleich um die Welt. "Bestürzung" habe Italien erfasst, hieß es in mehr als einer Schlagzeile. Die Welt sei alarmiert! Staatspräsident Giorgio Napolitano sprach von einer "Schande". Die Opposition brachte einen Misstrauensantrag gegen Kultusminister Sandro Bondi ein. Zerfall bedroht jedes alte Gemäuer, Kathedralen ohne Bauhütten, die die Substanz ständig ausbessern and instand halten, sind einem schleichenden Untergang fast hilflos ausgeliefert. Bei einer Stadt wie Pompeji, die buchstäblich aus dem Boden geholt wurde, sieht der Kampf gegen Verfall and Verwahrlosung noch dramatischer aus, nicht zuletzt bei dem großen Besucheransturm. Nicht nur der Schlendrian and die Vetternwirtschaft in Pompeji geriet deshalb ins Visier der Kritik, sondern Italiens Kulturpolitik überhaupt - die zu beklagen ein Cantus Firmus jeder italienischen Opposition war. Zwar kommen viele Touristen der Kulturgüter wegen nach Italien (wo sie circa zwölf Prozent des Bruttosozialprodukts beisteuern), doch im Staatshaushalt schlägt sich die Kultur nur mit 0,18 Prozent nieder (gegen rund ein Prozent in Frankreich). Im straffen Sparprogramm der Berlusconi Regierung wurde der Kultur-Etat von zwei auf 1,7 Milliarden gekürzt. 2011 sollen es nur noch 1,4 Milliarden sein.
Minister Bondi wies jede Kritik zurück, erst recht jede Verantwortung für den Einsturz. Das Problem sei nicht das fehlende Geld, sondern dass die Soprintendenten in der Regel Archäologen seien and leider keine Manager. Ein großeres Problem seien ohnehin die zwei Millionen Besucher jährlich. Für den Bestand Pompejis seien sie eher Fluch als Segen. Das sagt auch der Brite Robert Harris, Autor des Bestsellers "Pompeji". Er war "nicht erstaunt", schrieb er in der "Repubblica", über den Kollaps and wies auf das Paradox hin, dass Pompeji umso bedrohter sei, je mehr Besucher es anziehe. In archäologischer Hinsicht wäre es am besten, die Stadt ganz abzusperren, weil es fast unmöglich ist, das Recht der Besucher, möglichst viel zu sehen, mit den konservatorischen Notwendigkeiten in Einklang zu bringen. Dennoch erwog Bondi nach Weihnachten einen Rucktritt (aus Bitterkeit and Ernüchterung), "um die Regierung zu starken". Er habe "mehr Schaden als der Vesuv verursacht, deshalb muss er nach Hause gehen, and mit ihm die ganze Regierung", hatte Antonio Palagiano von der Oppositionspartei IDV (Italien der Werte) unmittelbar nach dem Einsturz des Hauses zum Besten gegeben. Schöner als in diesem Zitat lasst sich Italiens Alarmismus kaum auf den Punkt bringen. Im November verband sich der Wetterschaden in Pompeji wie in einem Lehrstück über die Mechanismen der Medien sogleich mit der politischen Erregung, die das Land vor dem letzten Misstrauensantrag gegen Silvio Berlusconi am 14. Dezember erfasst hatte. Bot sich Pompeji da nicht als sinnfälliges Menetekel an: als Schreckensbild für das baufällige Kartenhaus des Systems Berlusconi und das baldige Ende seines Regiments? War in dem Trümmerhaufen nicht das einstürzende Italien selbst zu erkennen, moralisch, wirtschaftlich, kulturell etcetera. Dass die Tage der Regierung gezählt waren, durchzog in der Berichterstattung zu Pompeji viele Kommentare im In- und Ausland. Nach dem gescheiterten Misstrauensvotum ist es deshalb auch wieder viel stiller um Pompeji geworden. In der Stadt war der Zusammenbruch des Hauses der Gladiatoren keine Metapher, sondern ein weiterer Beweis für ein spezifisch italienisches Dilemma. Denn Italien hat ja ein ungeheures, kaum zu bewältigendes Erbe der Weltkultur zu verwalten. Der Löwenanteil des Unesco-Weltkulturerbes - rund ein Sechstel - steht auf dem Boden der Halbinsel. Dass nicht genug dafür getan wird, dass falsche Maßnahmen zu seiner Erhaltung ergriffen werden, ist angesichts der schieren Menge beinahe entschuldbar. Nun fängt es wieder zu regnen an. Bei dem Wetter kann Pompeji froh sein, dass der Vesuv selbst sich nicht längst in Bewegung gesetzt hat. Das Haus der Gladiatoren mussten wir lange suchen. Der Untergang des Abendlandes ist der Trümmerhaufen nicht, der davon übrig blieb. Vor allem aber kamen wir bei der Suche nach den umgekippten Mauem unter unserem Schirm nicht aus dem Staunen darüber heraus, was hier alles ausgegraben wurde, bevor jetzt schon wieder ein Element davon zusammenbrechen konnte. Das so unglücklich untergegangene und wieder zu Tage getretene Pompeji ist und bleibt nichts anderes als ein Wunder der Weltkultur.

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