Die streunenden Hunde des Notstands

Die streunenden Hunde des Notstands
Henning Klüver
Süddeutsche Zeitung 30/7/2011

Wie man mit viel Geld noch mehr Schaden anrichtet: Die italienische Denkmalspolitik and der zweite Untergang Pompejis

Ist Pompeji noch zu retten? Diese und ähnliche Schlagzeilen machten im Sommer vor drei Jahren die Berlusconi-Regierung hellhörig. Sie war nach dem Wahlsieg vom April 2008 wieder an die Regierungsmacht gekommen und schickte einen Notkommissar, einen Beamten des Zivilschutzes, in das mit 66 Hektar Grundfläche größte Ausgrabungsgebiet Europas. Denn Pompeji ist nicht nur ein Problem für Archäologen: Die Ausgrabungsstätte prägt das Image des Landes wie kaum ein anderes Kulturgut. Die kommissarische Leitung sollte aufräumen, einen Notstand beseitigen. Die Regierung in Rom erkannte eine Chance kulturbewusst zu sein und Effizienz zu beweisen. Jetzt aber scheint Italien dabeizusein, die Ausgrabungsstätte mit viel Geld kaputtzusanieren.
Der Publizist Gian Antonio Stella warnt zusammen mit seinem Kollegen Sergio Rizzo in einem jüngst erschienenen Buch mit dem Titel "Vandali" ("Vandalen", Rizzoli Editore) vor den Folgen einer Kulturpolitik, die lange Zeit an eigentlich selbstverständlichen Erhaltungsmaßnahmen spart, dafür aber später (zu spät) mit vollmundig verkündig-ten Notaktionen rettend eingreifen will. Im Gespräch beklagt er, dass Italien "vor allem unter der Berlusconi-Regierung, aber nicht nur unter ihr, die pflegliche, die tägliche Instandhaltung verlernt hat." Heute herrsche überall die Logik des Notstandes.
Eine Folge dieser Notstandspolitik ist, dass in Pompeji öffentliche Finanzmittel in Millionenhöhe zum Fenster hinaus geworfen werden. Ein neuer Eingangsbereich wird bislang nicht genutzt. Dagegen hat man einen monströsen Betonbunker als Lagerhalle mitten im Ausgrabungsgebiet gebaut. Die Kosten stiegen von veranschlagten 3,9 Millionen auf über 5 Millionen Euro. Derweil blättern Fresken ab, brechen antike Mauern zusammen und stürzen 2000 Jahre alte Häuser ein. Zur Wartung eines antiken Domus gehören Wärter. Viele wurden jedoch entlassen und deren Stellen gestrichen - 709 waren in der Anlage im Jahr 2004 beschäftigt, heute sind es 505. Neben den Fresken bilden wohl die Mosaiken den größten Schatz der antiken Stadt. Aber es gibt langst keinen Mosaik-Handwerker mehr, and im Domus des Cecilio Giocondo wachsen Schimmel and Gras über die Bodenbilder.
Mit teuren Großeingriffen versucht man, Dinge wieder in Ordnung zu bringen, die man jahrelang hat verkommen lassen. Das gilt für das Kolosseum in Rom, für die Ausgrabungen in Catania, für das antike Zentrum von Agrigent, aber vor allem für Pompeji. Es sei zum Haareraufen, sagt Gian Antonio Stella. Italien sei lange ein Vorbild für andere gewesen, hier seien die ersten Gesetze zum Denkmalschutz geschrieben worden. "Wenn die Italiener sich nicht um ihr historisches Erbe gekümmert hatten, dann würde es heute ein Siena nicht mehr geben." Dann gäbe es kein Venedig, "Venedig ist ein Wunder der pfleglichen Wartung." Genau diese Wartung fehlt heute in Pompeji.
Doch auch die Wartungsgeschichte hat ihre Mangel. Fehlrestaurierungen der fünfziger and sechziger Jahre mit zu schweren Materialien müssen nach and nach rückgängig gemacht werden. Das ist teuer and auch unbequem, weil Pompeji mit Absperrungen and Schließungen noch mehr zu einer Baustelle würde, als es jetzt bereits ist. Stattdessen hat man die "Event-Restaurierung" in den Vordergrund gestellt. Mit vielen Absurditäten: für einen Berlusconi-Besuch, der dann nie stattfand, wurde ein Teppichboden über die Achse des Cardo bis zur Domus Lucrezio Frontone gelegt and wieder leicht mit Kieselsteinen verdeckt - Kosten: 81 000 Euro. Viel schlimmer: Stella hatte mit einem Artikel im Corriere della Sera gezeigt, wie etwa die angebliche Restaurierung des antiken Großen Theaters unter Einsatz von Beton jedweder Denkmalspflege Hohn spricht. Sinn der Operation war es gewesen, das Theater für Großveranstaltungen vom Opern- oder Konzertabend bis zum Schlagerfestival zu nutzen. Es gehe darum, Pompeji besser zu "valorisieren", wie es in der Sprache der Kulturpolitiker heißt. Anfang Juli wurde das Große Theater angesichts einer brutalen Fehlrestaurierung gerichtlich beschlagnahmt and eine juristische Untersuchung eingeleitet. Das neapolitanische Opernhaus San Carlo, dessen Orchester unter Riccardo Muti vor einem Jahr die "restaurierte" antike Spielstätte eröffnet hatte, verzichtet auf weitere Auftritte. In der Notstandslogik waren Aufträge an dubiose Firmenkonsortien eingegangen, die vollendete Tatsachen in Beton schufen. Die Kosten für das Große Theater waren von veranschlagten 500 000 Euro auf fast 6 Millionen Euro explodiert. So wird eine Kulturpolitik ad absurdum geführt, deren Ziel es ist, Italien zu einem "kulturellen Disneyland" zu machen. Das jedenfalls hatte der ehemalige McDonald's-Manager Mario Resca, der vom Kulturministerium für Fragen der Verwertung engagiert worden war, noch im Januar wörtlich als Ziel verkündet. In Pompeji wurden deshalb große Videoprojektionsanlagen aufgebaut. Und bei Internetauftritten lernt man die Namen der streunenden Hunde in der Ausgrabungsstätte kennen. Allein die Zahlung der 55 Tiere hat 102 000 Euro verschlungen, 1850 Euro pro Tier. Rund 79 Millionen Euro wurden in den vergangen drei Jahren für Pompeji ausgegeben - nur ein Teil davon floss in den Erhalt der Anlage. Dafür wurde gleich nach der Berufung des Notverwalters der langjährige wissenschaftliche Leiter für die archäologischen Museen and Ausgrabungsstätten von Pompeji and Neapel, Pier Giovanni Guzzo, in den Zwangsruhestand versetzt. Der weltweit anerkannte Archäologe hatte sich bereits in früheren Jahren den "Valorisierung" widersetzt, es allerdings nicht verstanden, seine Instandhaltungsmaßnahmen einer Öffentlichkeit verständlich zu machen, die bei jeder Schließung eines Domus Skandal and Schlendrian vermutete.
Nach der Abberufung von Guzzo war die Stelle lange verwaist. Dann wurde sie zu einem Karussell. Die heutige Leiterin Teresa Elena Cinquantaquattro ist die vierte Soprintendentin in Neapel seit September 2009. Sie ist zudem zuständig weitere Kommunen, zu denen auch die Ausgrabungen von Herculaneum, Stabia and Oplontis gehören. Die Archäologin Agnes Duckwitz von der Münchener Stiftung "Phoenix Pompeji" beklagt in einem Radio-Interview, Pompeji verfüge über keine Sponsoring-Abteilung, die umweltverträgliche Sponsoring- und Fundraising-Konzepte ausarbeite and internationalen Hilfsfonds koordiniere.
Eine Unesco-Kommission kam nach einem Besuch der Ausgrabungsstätte zu dem Schluss, dass der Ort keine "theatralische Präsentation" benötige. Das "nackte Pompeji in seiner Herrlichkeit" sei ausstrahlungskräftig genug. Doch man müsse mit einem Pflegeplan die tägliche Wartung der Anlage sicherstellen. Der Unesco-Bericht, so schrieb die Zeitung la Repubblica, werde im Kulturministerium ignoriert, weil er die von der Regierung zu verantwortende kommissarische Leitung kritisiere and eine Rückkehr zu den Planungen von Guzzo fordere.
Die kommissarische Leitung hat inzwischen wieder der gewöhnlichen Verwaltung Platz gemacht. Privatgruppen and Universitäten auch aus den USA oder aus Frankreich sind bereit, Geld, Wissen and Können in Pompeji zu investieren. Doch werden sie vom Ministerium wie von der Lokalpolitik immer wieder verprellt. Die italienische Regierung hat inzwischen eine Sonderfinanzierung mit insgesamt 105 Millionen Euro für Pompeji and andere Ausgrabungsstätten im Land verabschiedet. Geld ist also nicht das Problem. Wie es ausgegeben wird schon.

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